Auf frischer Tat - 1. Folge
by Catherine Dale
Tia, ich brauche deine Hilfe.
Was? Wer ist denn da? Woher hast du dieses Handy?
Du musst mir helfen.
Dir helfen? Ich weiß ja nicht mal, wer du bist.
Hallo? Wer ist da?
Hier ist Kieran.
Tia, bitte.
Was denn, ich habe dich doch gerade blockiert! Wieso kannst du mir noch SMS schreiben?
Tia! Ich bin es, dein Bruder. Dein Zwillingsbruder.
Das ist ekelhaft. Lass mich in Ruhe!
Es ist schwer für mich. Es ist ganz ... verwirrend.
Aber endlich komme ich durch. Es klappt.
Ich fasse es nicht. Wer auch immer du bist, das ist nicht witzig.
Es ist krank und gemein, und wenn du ein Gewissen hast, dann HÖR AUF damit. Und zwar sofort.
Ich bin es wirklich, Tia.
Nein, bist du NICHT. Du bist nicht mein Bruder, denn mein Bruder ist TOT.
Was bist du für ein Unmensch?
Das weiß ich nicht so genau. Ich versuche gerade, es herauszufinden.
Zwei Minuten vergehen.
Tia?
Sei kein Hamsterhirn, Tia.
Nein! Lass das!
Kieran muss jemandem von diesem Spitznamen erzählt haben.
Oder kennst du uns? Vielleicht hast du gehört, wie wir uns gegenseitig so genannt haben.
Oh Gott, dadurch wird es noch makaberer!
Frag mich doch was. Was könnte nur Kieran wissen?
Gut. Was haben wir unter der großen Zeder im Hof beerdigt?
Eine Fangfrage.
Wir haben das Plastikflugzeug begraben, das du zum Schmelzen gebracht hattest.
Aber wir haben es nicht unter der Zeder begraben, sondern unter der Birke.
Ich bin es, Tia. Ich schwöre es.
Aber ... Kieran? Ich weine gerade so sehr, dass ich den Bildschirm nicht mehr sehe!
Wo bist du denn? Wieso hast du nicht früher Kontakt zu uns aufgenommen?
Die Polizei hat uns gesagt ... uns gesagt, dass du unmöglich am Leben sein kannst!
Sie hat gesagt, da war zu viel Blut.
Oh Gott, Kieran, WO BIST DU?
Lieber Himmel, ich muss es Mama und Papa sagen!
Nein! Noch nicht.
Warum nicht? Was ist los?
Es ist nur so ... die Polizei hatte gar nicht unrecht, T.
Womit hatte sie nicht unrecht?
Dass da so viel Blut war. Was sie gesagt haben.
Was redest du da?
Ich bin wirklich gestorben.
Und ich will, dass du meinen Leichnam findest.
Zwei Minuten vergehen.
Tia?
Ich weiß, es ist schwer, das alles zu akzeptieren.
WIE, ZUM TEUFEL? ICH HATTE MEIN HANDY AUSGESCHALTET!
LASS MICH IN RUHE.
Ich weiß nicht genau, wie lange es noch funktionieren wird, T.
Etwas zieht an mir ...
Ich kann es nicht erklären, aber es fällt mir schwerer, mich ... mich zu erinnern.
Mich zu erinnern, wer ich bin. Nein, das stimmt nicht.
Es ist schwerer ... ich weiß nicht ... klar zu denken.
Es kommt mir vor, als würde ich alle meine Gedanken verlieren und nur noch Gefühle haben.
Wie machst du das? WARUM machst du das?
Du spürst die Wahrheit, T, oder nicht?
Willst du noch mehr Zwillings-Beweise von mir haben?
Okay. Du bist gut. Mindestens so gut in Mathe und Naturwissenschaften, wie ich bin.
Wie ich WAR.
Aber du wolltest immer zu den albernen Mädchen gehören, darum hast du das nicht gezeigt.
Und das ist in zweierlei Hinsicht ein Beweis, T.
Erstens -- es beweist, dass ich dich kenne.
Und zweitens: Du bist klug genug, um zu wissen,
dass ein Handy nicht funktioniert, wenn es auf dem Tisch liegt und der Akku rausgenommen wurde.
Woher weißt du ...
Jetzt schaust du dich um, ob irgendwo versteckte Kameras sind.
Jetzt läufst du weg.
Verdammt, ich hasse es, dich so ängstlich zu sehen.
Wo willst du hin?
Okay, du bist draußen. Ja, das ist gut.
Du gehst zu der alten Birke.
Weißt du noch, wie wir uns gegenseitig erschreckt haben, indem wir höher geklettert sind, als wir sollten?
Und wir haben die Rinde von den Ästen geschält und Festungen gebaut für deine ...
Okay, Zwillingsgespräche sind ehrliche Gespräche -- für UNSERE Puppen?
Wenn ich an diese Dinge denke, geht es mir gut.
Wenn ich mit dir spreche und an die guten Zeiten denke, dann bin ich noch immer ich.
Aber die anderen Zeiten, Tia ... da werde ich sehr wütend. Und ich habe das Gefühl, die Wut nicht kontrollieren zu können.
Als ob es in mir dunkel wäre.
Und die Dunkelheit breitet sich aus und trifft auf noch mehr Dunkelheit.
Woher die kommt, weiß ich nicht.
Und ich habe das Gefühl, wenn das zu weit geht, verschmelze ich einfach mit der Dunkelheit und werde ein Teil von ihr.
UND DAS WILL ICH NICHT.
Bitte.
Ich glaube, du kannst mir helfen.
Tia taumelt auf die Birke zu.
Sie lehnt sich an den Baum, als wollte sie ihre Kraft nutzen, um sich selber auf den Beinen zu halten.
Sie nimmt drei tiefe, zitterige Atemzüge, dann hebt sie ihr Handy ans Ohr.
Kieran?
Ja. Ich bin es, versprochen.
Wo bist du?
Ich bin sozusagen ... mein Geist ... jedenfalls bin ich bei dir. Genau hinter dir.
Immer?
Nein. Ich kann mich fortbewegen.
Zum Beispiel neulich Abend, da bist du im Tori’s mit Scotty Cade nach oben gegangen.
Glaub mir, ich war SCHNELL.
Es gibt Dinge, die braucht ein Bruder nicht zu sehen.
Oh, mein Gott. Das ist SO peinlich.
Viel peinlicher wäre es gewesen, wenn ich geblieben wäre.
Wohin gehst du, wenn du nicht bei mir bist?
Ich schwebe einfach, manchmal.
Ich kann es nicht wirklich -- ich glaube, ich kann mich nur an Menschen hängen, die ich wirklich geliebt habe.
Na ja, nicht nur an Menschen. An dich, an Mama und Papa und auch an Webster.
Du verfolgst den Kater?
Mist. Ist „verfolgen“ eigentlich das richtige Wort?
Ich weiß nicht. Für diese Situation gibt es keine Gebrauchsanleitung.
Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das hier ein Scherz ist. Ich ...
Ich drehe gleich durch.
Du weinst ja immer noch.
Ein bisschen hast du gelacht, als wir von Webster gesprochen haben.
Aber selbst beim Lachen hast du geweint.
Du bist jetzt ziemlich abstoßend. Ja, rotzfrech sogar.
Tia lacht halb und versucht, sich mit dem Ärmel ihrer Bluse das Gesicht abzuwischen.
Oh Gott, Kieran, du hast mir so gefehlt. Es war sehr schwer.
Ich weiß. Das habe ich gesehen.
Und ich habe es gehasst, euch alle so bestürzt zu sehen und nichts dagegen tun zu können.
Zu wissen, dass alles meine Schuld war.
Nein! Ganz gleich, was geschehen ist, es war nicht deine Schuld.
Na gut, nein. Jemand anderes ist schuld.
Und ich möchte, dass du mir hilfst, ihn dafür büßen zu lassen.
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