Belladonna - 1. Folge
by Kayla Parent
Das Mondlicht schneidet durch das Blätterdach des Waldes
und beleuchtet den dunklen Pfad vor mir.
Ich höre einen Ast knarren –
Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
Doch dann taucht eine Gestalt auf und ich kann wieder atmen.
Er ist es.
Der Junge, auf den ich gewartet habe.
Wir blicken uns in die Augen und betrachten einander zum ersten Mal.
Du siehst ihr nicht ähnlich.
Dann würde das hier auch nicht klappen.
Bist du bereit dafür?
Muss ich wohl.
Nur so finde ich heraus, was Verity zugestoßen ist.
Die Belladonnas sind gefährlich.
Ich habe keine Angst vor ihnen.
Solltest du aber.
Am nächsten Morgen
Die Blackvale-Akademie ist keine Highschool wie jede andere.
Ich schaue an dem gotischen Bau empor, der wie eine Burg aussieht.
Dann hole ich tief Luft.
Hier ist es.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Ich vergewissere mich noch einmal, dass ich auf dem mit „1” markierten Parkplatz stehe ...
Dann hole ich mein Handy raus, um Warren zu schreiben.
Habe auf ihrem Platz geparkt, wie du gesagt hast.
Ich gebe dir Bescheid, wie es läuft.
Dann mache ich mich fertig.
Ich löse meinen Haarknoten.
Dann schüttele ich mein Haar, bis es wild und frei über meine Schultern fällt.
Ich male mir die Lippen blutrot an.
Die Strümpfe ziehe ich hoch bis zu den Knien.
Und ich tausche meine flachen Schuhe gegen schwarze Kunstleder-Highheels mit zehn Zentimeter hohen Absätzen.
Zum Schluss nehme ich meine Halskette ab –
ein Herz mit einem eingravierten „V” –
und stecke sie in die Tasche meines Shirts.
Wenn die einer sieht, kann er erraten, wer ich wirklich bin.
Und das darf nicht passieren.
Für all die Leute hier heiße ich Nova.
Ich steige aus meinem Wagen und trete hinaus in den Nieselregen.
Draußen schaue ich in ein Meer von verstörten Gesichtern.
Aber ich reagiere nicht.
Ich muss die selbstbewusste, coole Neue spielen.
Also lehne ich mich nach hinten gegen die Wagentür, als könnte mich nichts auf der Welt erschüttern.
Mein Handy summt, eine neue Nachricht:
Sei vorsichtig, Nova.
Bevor ich antworten kann,
kommt ein zierliches Mädchen zu mir gerannt.
Es wirkt panisch.
Bist du verrückt?!
Du darfst hier nicht parken!
Ich mustere sie kurz.
Sie ist süß, aber all ihr bunter Schmuck und das übertriebene Make-up ...
Es wirkt einfach nur bemüht.
Wieso denn nicht?
Sie packt meinen Arm und will mich zur Tür meines Wagens lotsen.
Du musst dein Auto wegfahren, jetzt gleich.
Das hier ist IHR Platz.
Und sie werden jeden Moment hier sein.
Ich bleibe stur und entziehe mich ihrem Griff.
Wer sind „sie”?
Und wer bist du eigentlich?
Da seufzt sie frustriert.
Sie schaut von einer Seite zur anderen, dann beugt sie sich zu mir.
Ich heiße Thora, bin im zweiten Highschooljahr.
Und „sie”, das sind die Belladonnas!
Sie spricht mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst.
Die Mädels, die hier alles am Laufen halten.
Und glaub mir, mit denen sollte man es sich nicht verderben.
Also fahr dein Auto weg, bevor es ...
Ein Donnern unterbricht ihre Worte,
genau als sie ihre Augen auf etwas hinter meinem Rücken richtet.
Zu spät.
Ich drehe mich um und sehe, wie ein sehr teuer wirkender Wagen mit schwarz getönten Scheiben in die Einfahrt rollt.
Auf dem Parkplatz Nummer 1 bleibt er stehen.
Thora, die neben mir steht, stöhnt:
Jetzt bist du fällig.
Ich habe keine Angst vor all den Leuten.
Thora guckt mich an, als käme ich von einem anderen Planeten.
Sie sind nicht nur berühmt ...
Ich schaue rüber zu dem Wagen, als der Motor verstummt.
Sie sind noch viel mehr.
Sie sind mächtig, und zwar nicht nur hier in der Schule.
Was meinst du damit?
Sie haben in dieser Stadt das Sagen.
Man munkelt über Dinge, die sie getan haben,
um zu bekommen, was sie wollen.
Thora ringt die Hände.
Und was sie wollen, das kriegen sie. Immer.
Pause. Dann sagt sie wie zu sich selbst:
Sie sind gefährlich.
Plötzlich steigt ein Mädchen aus dem Wagen.
Und Thora flüstert mir ins Ohr:
Das ist Cleo Covington, sie ist auch im zweiten Jahr.
Man nennt sie „Succubus”.
Weil sie eine richtige Herzensbrecherin ist.
Ich schaue mir Cleo genau an.
Sie sieht tatsächlich umwerfend aus
mit ihren Katzenaugen und der Modelfigur.
Aber sie wirkt auch bösartig,
viel bösartiger als ein normales fieses Mädchen.
Und sie starrt mich unverhohlen an.
Die Beifahrertür öffnet sich, ich schaue hin – ein zweites Mädchen steigt aus.
Es ist kleiner, hat dunkle Haut und ist genauso schön.
Das ist Paulina Auberon.
Sie ist im dritten Jahr, das klügste Mädchen der Schule.
Aber sie ist nicht nur intelligent.
Gerissen ist sie – und skrupellos.
Paulina starrt mich ebenfalls an.
Doch anders als bei Cleo hat ihr Blick etwas Durchtriebenes
und eine Schärfe, die mir einen Schauer über den Rücken jagt.
Die Fahrertür öffnet sich genau in dem Augenblick, wo ein Blitz durch den Himmel zuckt.
Und als das Mädchen aussteigt,
weicht mir das Blut aus dem Gesicht.
Sie sieht ... tödlich aus.
Das ist Kendall Eris.
Die Präsidentin der Belladonnas, sie ist im vierten Jahr.
Von ihrer Schweigsamkeit darf man sich nicht täuschen lassen.
Sie herrscht hier über alles und jeden.
Das glaube ich ihr.
Nicht bloß wegen ihres langen, schwarzen Haars.
Auch nicht wegen des ruhigen, aber bedrohlichen Ausdrucks in ihrem schönen Gesicht.
Es ist ihre düstere und geheimnisvolle Ausstrahlung.
Und einen Moment lang schaue ich wie erstarrt.
Die drei Mädchen versammeln sich hinten am Wagen.
Dann kommen sie gemeinsam auf mich zu.
Thora geht ein paar Schritte zurück.
Plötzlich bin ich allein.
Ich habe eine Riesenangst, weiche aber nicht von der Stelle.
Die drei Mädchen bleiben vor mir stehen.
Es regnet stärker.
Aber Paulinas scharfe Stimme schneidet wie ein Messer durch den Regen.
Das hier ist unser Platz. Bist wohl neu?
Sie mustert mich vom Kopf bis zu den Füßen, langsam und drohend.
Das macht mich sprachlos.
Cleo tritt vor und fragt spöttisch:
Was ist denn los?
Hat es dir etwa die Sprache verschlagen?
Sie leckt sich über die Lippen, ihre Augen blitzen.
Ich atme zitternd aus, dann blicke ich zu Kendall.
Sie sagt nichts.
Aber ihre Augen fixieren mich wie Laser.
Ich schlucke mühsam.
Wie konnte Verity nur in dieser Gruppe sein?
Sie ist doch überhaupt nicht wie die.
Nach ein paar angespannten Augenblicken
antworte ich, ohne mir anmerken zu lassen, dass ich innerlich vor Angst bebe.
Mir gelingt sogar ein gelangweiltes Lächeln.
Heute ist das wohl MEIN Platz.
Entsetztes Keuchen ringsum.
Ich lächele die Belladonnas an.
Dann drehe ich mich um und gehe.
Dutzende Augenpaare schauen mir hinterher.
Irgendwie überstehe ich meine ersten Unterrichtsstunden.
Aber von den Belladonnas habe ich seit vorhin nichts mehr gesehen oder gehört.
Das ist kein gutes Zeichen.
Wenn ich etwas in Erfahrung bringen will, muss ich mich in ihre Gruppe einschleusen.
Und dann rausfinden, was mit –
Die ganze Schule spricht von dir!
Ich drehe mich von meinem Schließfach weg. Vor mir steht Thora.
Sie wippt auf den Zehen und wirkt aufgekratzt.
Was meinst du damit?
Niemand will wahrhaben, was du heute früh getan hast!
Sich so gegen die Belladonnas stellen?
Das ist mutig!
Ich zucke mit den Achseln, als wäre es mir gleichgültig.
Dann lüge ich dreist:
Ich wusste gar nicht, dass das ihr Parkplatz ist.
Thora beugt sich vor, ihre Augen strahlen.
Die sind heute Vormittag noch in keiner Stunde gewesen.
Es heißt, sie planen Rache.
Ich verdrehe die Augen und gebe mich unbeeindruckt.
Ich habe dir doch gesagt, ich habe keine Angst vor ihnen.
Thora schaut mich an.
Das solltest du aber.
Aber keine Sorge ...
Ich stehe hinter dir.
Willst du beim Mittagessen bei mir sitzen?
Es klingelt pünktlich zur Mittagspause.
Thora scheint nett zu sein, und wenn ich zum Mittagessen ginge, würde ich bei ihr sitzen …
Aber ich muss noch etwas erledigen.
Ich öffne mein Schließfach, dann lächele ich Thora entschuldigend an.
Würde ich gerne.
Aber ich muss zum Schulleiter.
Morgen?
Ihre Schultern sacken herab, doch sie nickt.
Alles klar. Aber sei vorsichtig, okay?
Das meine ich ernst.
Ich nicke, und als sie weg ist,
schreibe ich an Warren.
Ich habe definitiv ihre Aufmerksamkeit bekommen.
Aber ich weiß nicht genau, ob es die richtige Art von Aufmerksamkeit ist.
Die Belladonnas schätzen freche, furchtlose Frauen.
Du hast es richtig gemacht.
Ich fühle mich, als hätte ich eine Zielscheibe auf dem Rücken.
Stell dir mal vor, wie Verity sich gefühlt hat.
Ich seufze, dann stecke ich mein Handy ein.
Ich schaue mich um und vergewissere mich, dass niemand im Flur ist.
Dann gehe ich rauf in den ersten Stock.
Ich fahre mit den Händen über die Schließfächer,
bis ich das richtige gefunden habe.
Nummer 557: Veritys Schließfach.
Ich versuche spontan, es zu öffnen.
Aber es ist verschlossen.
Ich drehe sinnlos am Ziffernrad, dann seufze ich frustriert.
Wie, zum Teufel, komme ich da ran?
Ich höre, wie unten im Flur eine Tür aufgeht.
Gerade noch rechtzeitig sehe ich, wie Kendall das Gebäude verlässt.
Sie sieht genauso bedrohlich aus wie vorhin.
Ich presse mich unbewusst gegen die Schließfächer.
Sie geht mit großen Schritten Richtung Ausgang.
Doch dann bleibt sie kurz stehen und greift in ihre Tasche.
Sie zieht eine Porzellanbox heraus und
starrt sie lange an …
Schließlich verlässt sie das Gebäude.
Ich zögere, aber wenige Sekunden später
gehe ich ihr hinterher.
Wo sie wohl hingeht, mitten am Tag?
Ob ich irgendwie ihre Aufmerksamkeit bekommen kann, ohne dass es zu offensichtlich ist?
Die Ideen schießen mir durch den Kopf.
Als ich rauskomme,
steht Kendall am Bordstein –
in den Armen eines Typen, der an seinem Motorrad lehnt.
Er trägt eine schwarze Lederjacke und die passende Jeans dazu.
Und er lächelt, während er ihren Hals betrachtet.
Plötzlich schaut er auf, als hätte er gespürt, dass ich da bin.
Unsere Blicke treffen sich …
Und innerhalb einer Sekunde
bleibt mir komplett die Luft weg.
Er hat dunkles Wuschelhaar
und Augen so kalt und blau wie Eis.
Sein markanter Kiefer ist von einem leichten Dreitagebart bedeckt.
Und seine Lippen sind voller, als sie bei einem Mann sein sollten.
Er ist der atemberaubendste Mensch, den ich in meinem Leben gesehen habe.
Ganz unbewusst merke ich,
wie er mich auch anstarrt.
Sein Mund ist halb geöffnet.
Plötzlich dreht sich Kendall um
und schaut mich so wütend an,
dass ich Mühe habe, meinen Gesichtsausdruck zu kontrollieren.
Schnell schaue ich weg und gehe zu meinem Wagen.
Aber vorher lese ich das Nummernschild an seinem Motorrad:
„Rylan”.
Das muss sein Name sein.
Ich mache mir innerlich Vorwürfe bei dem Gedanken.
Wen interessiert schon sein Name?!
Kendall hat mich ertappt, wie ich ihren Mann angaffe!
Vermutlich habe ich gerade alles versaut!
Ich tue so, als würde ich etwas aus meinem Wagen holen.
Dann mache ich mich auf den Rückweg zur Schule,
den Blick stur nach vorn gerichtet.
Ich muss mich beruhigen. Konzentrier dich!
Aber mein ganzer Körper vibriert.
Die Art, wie er mich angesehen hat, lässt mich nicht mehr los.
Ungezügelt und wild.
Als ich an ihnen vorbeigehe, höre ich einen Teil ihrer Unterhaltung mit.
Rylans Stimme ist tief und berauschend.
Ich weiß nicht, was los ist.
Der Motor springt nicht an.
Plötzlich kommt mir eine sehr riskante und verwegene Idee.
Ich bin bei meinem Vater aufgewachsen,
der eine Karosseriewerkstatt betreibt.
Vielleicht kann ich …
vielleicht kriege ich so Kendalls Aufmerksamkeit.
Ich drehe mich schnell um und gehe auf die beiden zu.
Sie schauen gleichzeitig zu mir auf.
Aber bevor einer von ihnen etwas sagen kann,
strecke ich die Hand aus und drehe an den Lenkergriffen,
bis ich ein Klicken höre.
Dann drücke ich die Kupplung runter und drehe den Zündschlüssel.
Das Motorrad springt dröhnend an.
Heiliger Scheiß – es hat wirklich geklappt!
Gott sei Dank!
Ich lächele verschmitzt.
Rylan wirkt beeindruckt.
Sein Blick trifft auf meinen.
Und dann sprudeln die Worte aus mir heraus:
Falls du Hilfe brauchst, um deinen Motor zu starten,
sag mir Bescheid.
Überrascht zieht er die Augenbrauen hoch.
Aber da ist der Anflug eines Lächelns in seinem Gesicht.
Ich zwinkere, und als ich gehe, achte ich darauf, Kendall nicht anzuschauen.
Kaum habe ich ihnen den Rücken zugekehrt,
atme ich endlich aus.
Wenn das nicht frech und furchtlos war!
Hoffentlich bin ich nicht zu weit gegangen.
Doch als ich am Ende des Tages
immer noch nichts von den Belladonnas gehört habe,
beginnt meine Hoffnung zu schwinden.
Verity hat mir erzählt, dass sie an ihrem ersten Tag in die Gruppe aufgenommen wurde.
Dass die Belladonnas sofort über Mädchen entscheiden.
Und dass, wenn man nicht von ihnen hört,
man keine Chance hat, reinzukommen.
Ich schreibe Warren die schlechten Neuigkeiten.
Nichts.
Tut mir leid.
Was mache ich jetzt?
Mein ganzer Plan hing davon ab, dass ich in die Gruppe komme.
Niedergeschlagen öffne ich mein Schließfach.
Da fällt mir ein kleiner, schwarzer Umschlag vor die Füße.
Ich zittere fast, so hoffnungsvoll bin ich.
Ich hebe den Umschlag auf und öffne ihn.
Darin liegt eine getrocknete Tollkirschenblüte.
Und eine Mitteilung: „Nachtigallensee. Mitternacht.”
Hinter mir höre ich ein Keuchen.
OH, MEIN GOTT.
Thora reißt mir den Zettel aus der Hand und liest.
Das ist eine Einladung zur Party am See!
Diese Partys sind absolut exklusiv!
Hast du ein Glück!
Ob das stimmt, weiß ich nicht.
Aber ich bin erleichtert: Schritt eins ist abgeschlossen.
Während Thora immer weiter über die Party redet,
sende ich heimlich eine Nachricht an Warren:
„Alles klar. Ich bin drin.”
Kurz vor Mitternacht komme ich am Nachtigallensee an.
Ich schreibe an Warren, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen.
Ich bin da.
Sei vorsichtig.
Diese Partys sind nicht ohne Grund berüchtigt.
Ein kalter Wind weht, als ich seine Worte lese.
Fröstelnd laufe ich in den Wald,
folge der Musik und dem Gelächter.
Aber bevor ich die Lichtung erreiche,
sehe ich ein altes, verwahrlostes Schild: „Nachtigallensee”.
Mein Herz krampft sich zusammen.
Hier wurde Verity zum letzten Mal gesehen.
Echt krank, dass die hier immer noch feiern.
Ich versuche, mich zu beruhigen,
schließe die Augen und atme tief durch.
Dann lege ich die Hand auf die Halskette, die unter meinem Shirt verborgen ist.
Wo bist du?
Ich flüstere die Worte in den Wind –
und bin geschockt, als eine Antwort kommt:
Hier bin ich.
Ich keuche und drehe mich rasch um.
Dort, an einen Baum gelehnt, steht kein anderer als – Rylan.
Wieder ist er ganz in Schwarz gekleidet.
Und er sieht genauso toll aus wie vorhin.
Mein Herz hämmert, als ich ihn sehe.
Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken.
Er kommt auf mich zu.
Instinktiv trete ich ein paar Schritte zurück.
Auch wenn er der schönste Mann ist, den ich je gesehen habe:
Ich kenne ihn nicht.
Und ich kann niemandem vertrauen.
Als würde Rylan mein Unbehagen spüren,
schiebt er die Hände in die Taschen.
Normalerweise verstecke ich mich nicht draußen hinter Bäumen.
Ich musste nur mal kurz dort weg.
Er deutet mit dem Kopf über seine Schulter
und ich schaue, was hinter ihm passiert.
Da sehe ich zum ersten Mal den See.
Ich blinzele ein paarmal, während ich alles betrachte.
Ein Dutzend Fackeln erhellt den ansonsten dunklen Ort.
Aber obwohl ich nur Schatten sehe,
erkenne ich das Chaos.
Nein, es ist mehr als nur Chaos –
es ist eine Orgie.
Ich sehe Mädchen, die mehr oder weniger nackt sind.
Wohin ich auch schaue, werden Drinks und Joints herumgereicht.
Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Paar auf dem Steg gerade Sex hat.
Rylan folgt meinem Blick und lacht.
Ist schon ein alter Hut, glaub mir.
Ich schaue mich zu ihm um und mustere seine Gesichtszüge.
Faszinierend, wie seine Augen im Mondlicht glänzen ...
Und mir bleibt die Sprache weg.
Aber dann räuspert er sich und und streckt eine Hand aus.
Rylan Eventide.
Im ersten Jahr an der Dexter.
Dexter?
Die Jungenschule auf der anderen Seite des Sees.
Ja, davon hat Verity mir erzählt.
Warren geht auf diese Schule.
Äh … cool.
Gott, warum habe ich einen Knoten in der Zunge?
Normalerweise bin ich nicht so.
Rylan grinst, als könnte er meine Gedanken lesen.
Also, wer bist du?
Die Frage macht mich nervös.
Und ich antworte schneller, als ich eigentlich will.
Was meinst du damit?
Warum willst du wissen, wer ich bin?
Er lacht leicht und hebt beide Hände.
Ich möchte mich nur bei dem Mädchen bedanken, das mir heute mit meinem Motorrad geholfen hat. Das ist alles.
Oh.
Ich schenke ihm ein kleines Lächeln.
Ich bin paranoid.
Nova heiße ich.
Neu.
Was?
Er lächelt breit und beißt sich auf die Unterlippe.
Nova bedeutet neu.
Passt merkwürdig gut zu dir, findest du nicht?
Ich lache und schaue weg.
Kann schon sein.
Bin gerade von New York hergezogen.
Von New York nach Washington?
Das ist ziemlich weit.
Was führt dich hierher?
Den wahren Grund kann ich ihm nicht nennen.
Aber ich verrate ihm ein Stück von der Wahrheit.
Meine Eltern sind geschieden.
Ich habe bei meinem Vater gelebt.
Und jetzt bin ich hier, um ein bisschen Zeit bei meiner Mutter zu verbringen.
Er nickt und schweigt einen Augenblick.
Ich will schon gehen, aber was er nun sagt, lässt mich innehalten:
Hast du Schwierigkeiten oder so?
Eine sehr persönliche Frage für einen Fremden.
Ich sollte einfach weggehen, aber …
Warum fragst du das?
Er zuckt mit den Achseln und steckt die Hände wieder in die Taschen.
Du hast gerade so traurig ausgesehen.
Wenn ich jetzt antworte,
sage ich ihm die ganze Wahrheit.
Ich bin nicht traurig.
Sondern wütend.
Er blinzelt mir langsam zu.
Seine Lippen sind schmal, aber sein Blick wird weich.
Ich bin auch wütend.
Ständig.
Der Wind peitscht um uns herum, während wir den Blick des anderen suchen.
Ich weiß zwar nicht, warum er wütend ist,
und er weiß nichts über mich,
aber sein Blick ist verständnisvoll,
und zwischen uns gibt es eine unerklärliche Veränderung.
Ohne zu wissen warum, gehe ich einen Schritt auf ihn zu.
Vielleicht will ich mich noch mehr von diesem Verständnis,
um mich weniger allein zu fühlen.
Doch als er sich gerade vorbeugt,
höre ich zu meiner Linken ein leichtes Lachen.
Rylan und ich drehen uns gleichzeitig um –
und gehen sofort auseinander.
Da stehen Kendall, Paulina und Cleo.
Die Belladonnas.
Einen Augenblick lang sagt niemand ein Wort.
Ich frage mich, ob ich mich entschuldigen oder lieber eine Ausrede erfinden soll.
Mit Kendalls Mann allein ertappt zu werden ist weder frech noch furchtlos.
Es ist dumm.
Doch bevor ich etwas sagen kann,
tritt Kendall vor.
Sie läuft in Rylans Arme.
Und ich schaue weg, als sie ihn besitzergreifend küsst.
Ich empfinde einen merkwürdigen Anfall von Enttäuschung,
lasse es mir aber nicht anmerken.
Cleo und Paulina kichern.
Dann kommen sie herüber und stellen sich vor mir auf.
Eine Sekunde später kommt Kendall dazu.
Und plötzlich bin ich umringt.
Ich darf mich von ihnen aber nicht einschüchtern lassen.
Also passe ich auf, dass mein Kinn oben bleibt.
Dann greife ich in meine Tasche
und ziehe den Umschlag heraus.
Warum bin ich hier?
Ich bekomme einen Schock, als Kendall antwortet:
Weißt du, wer wir sind?
Ihre Stimme ist sanft und süß,
sie passt nicht zu ihrem bedrohlichen Äußeren …
Und sie bringt mich sogar noch mehr aus dem Konzept als vorher.
Jeder weiß es.
Die drei schauen einander an und lächeln.
Mädels, die kennt sich mit Motorrädern aus.
Sie steckt voller Überraschungen.
Cleo tritt vor und berührt mein Haar.
Ich muss mich mit aller Kraft zusammenreißen, um ihre Hand nicht wegzuschlagen.
Sie kommt auf meine linke Seite.
Und mit all den Mädchen von allen Seiten
fühle ich mich erstickt.
Deshalb schiebe ich mich instinktiv vor,
drehe mich um und verschränke die Arme.
Meine Stimme verrät nicht, wie wütend ich bin.
Diese Mädchen sind fies …
Und ich kann nicht glauben, dass Verity sie je als Freundinnen bezeichnet hat.
Was wollt ihr?
Ich richte die Frage an Kendall.
Aber es ist Cleo, die antwortet.
Tolle Nummer, die du heute Morgen auf dem Parkplatz abgezogen hast.
Ich schaue sie mit zusammengekniffenen Augen an.
Und ihre Lippe kräuselt sich, als sie vortritt.
Ich gehe auch einen Schritt nach vorn, sodass wir Nase an Nase stehen.
Ach, willst du dich prügeln, oder was?
Drei gegen eine ist ja wohl nicht fair.
Paulina legt Cleo eine Hand auf den Arm und zieht sie zurück.
Dann macht sie einen Schritt nach vorn und schaut mich anerkennend an.
Du hast unsere Aufmerksamkeit bekommen.
Du fällst auf.
Und wenn alles gut läuft,
dann möchten wir, dass du bei uns mitmachst.
Warren hatte recht.
Sie schätzen tatsächlich freche und furchtlose Frauen.
Aber ich weiß, dass es so einfach nicht werden wird.
Ich trete von einem Fuß auf den anderen.
Ich muss cool bleiben.
Dieses Freundschaftsangebot ist ja nett.
Aber ich bin nicht interessiert.
Kendall lacht.
Es schallt laut um uns herum.
Wir bieten dir keine Freundschaft an.
Sondern eine Chance.
Und was bedeutet das?
Kendall lächelt langsam.
Macht.
Paulina tritt neben sie.
Vergiss alles, was du über uns zu wissen glaubst.
Es gibt uns schon seit Jahrzehnten.
Nur die Besten der Besten dürfen sich Belladonna nennen.
Die Mädchen, die unter diesem Namen ihren Abschluss machen, haben mehr als nur Macht.
Sie kriegen mehr, als sie sich je gewünscht haben.
Blackvale ist voll von bedauernswerten, emotionalen Kindern, die es zu nichts bringen werden.
Wir hoffen, dass du anders bist.
Ich betrachte sie aufmerksam
Und versuche, meine Begeisterung nicht zu zeigen.
Mein Plan hat wirklich funktioniert!
Sie bieten mir an, eine von ihnen zu werden,
genau wie sie es mit Verity gemacht haben.
Das ist meine Chance, Antworten zu finden.
Und jetzt kann ich nicht mehr die Unbeteiligte spielen.
Ein bisschen Macht, klingt gut.
Ja, okay.
Ich trete bei –
Die Mädchen brechen plötzlich in Gelächter aus.
Cleo am lautesten.
Sie schenkt mir ein kaltes, aber schönes Lächeln.
Das passiert nicht einfach so, du Neue.
Erst musst du dich beweisen.
Wir haben einen Test für dich.
Machst du ihn?
Du bist schon einen Schritt näher dran.
Am liebsten würde ich „Ich mache alles!” schreien.
Denn das werde ich.
Ich muss in diese Gruppe kommen.
Also gelobe ich, alles zu machen, was sie sagen.
Was ist denn der Test?
Kendall lächelt, dann hakt sie sich bei Rylan ein.
Ich blicke ihn seit einer Weile zum ersten Mal an.
Er beobachtet mich mit leerem Gesicht …
Aber in seinem Blick spüre ich Unbehagen.
Kendall spricht laut, als wollte sie meine Aufmerksamkeit erregen.
Siehst du da drüben die Butterblume?
Butterblume?
Ich folge ihrem Finger, bis ich ein braunhaariges Mädchen sehe, das auf dem Steg steht.
Wir wollen, dass du sie in den See schubst.
Ich reiße die Augen auf.
Wieso sollte ich das tun?
Kendalls Oberlippe kräuselt sich.
Weil es lustig ist.
Ich schaue wieder hinüber zu dem Mädchen.
Könnte ich wirklich so sinnlos grausam sein?
Zu jemandem, den ich gar nicht kenne?
Das würde ihr wahrscheinlich den ganzen Abend verderben.
Ich … ich könnte mich hinterher vielleicht bei ihr entschuldigen
und es irgendwie wiedergutmachen.
Ich gehe ein paar Schritte vor,
aber mir dreht sich der Magen um.
Ich denke an Verity.
Ich versuche, mir in Erinnerung zu rufen, dass ich alles tun muss, um in diese Gruppe zu kommen.
Ich schaue zu, wie das Mädchen lacht und näher ans Ende des Stegs tritt.
Dann schließe ich die Augen, bin innerlich zerrissen,
und fast mache ich noch einen Schritt …
Aber ich bleibe stehen.
Ich kann nicht.
Und ich werde es nicht tun.
Ich öffne die Augen und blicke die Belladonnas an.
Nein.
Enttäuschung steigt in mir auf,
aber es gelingt mir, den Kopf hoch zu halten.
Nein?
Ich nicke, dann sehe ich Rylan an.
Er … lächelt.
Wieso lächelt er denn?
Ihr könnt euch eine andere für eure Drecksarbeit suchen.
Plötzlich drückt mir jemand einen Drink in die Hand.
Paulina steht neben mir, auch sie lächelt.
Gut gemacht.
Wir tun anderen Frauen nie ein Leid an, es sei denn, sie haben es verdient.
Cleo lächelt nicht, wirkt aber beeindruckt.
Du hast bestanden.
Dieses Mal jedenfalls.
Ich glaube, du steckst voller Überraschungen.
Ein Schauer der Erleichterung durchfährt mich.
Ich habe meine Chance doch noch nicht vertan.
Ich nehme einen Schluck von meinem Drink, brauche einen Augenblick.
Als ich aufschaue, steht Kendall vor mir.
Komm, du Neue.
Gehen wir feiern.
Gegen 4 Uhr morgens bin ich zu Hause
und völlig erschöpft.
Aber schlafen gehen kann ich noch nicht.
Eine Sache muss ich noch erledigen.
Ich gehe in den Wald hinter meinem Haus,
und als ich den blubbernden Bach erreiche,
wartet Warren dort schon auf mich.
Als er mich sieht, springt er von dem Stein, auf dem er gesessen hat.
Er ist groß, durchschnittlich gebaut und gut aussehend.
Attraktiv auf jeden Fall.
Mein Typ ist er nicht, aber Veritys. Definitiv.
Ich winke ihm halbherzig zu,
dann lasse ich mich auf den Stein plumpsen, den er gerade freigegeben hat.
Warren schiebt die Hände in die Taschen,
dann schaut er mich wachsam an.
Geht es dir gut?
Ich lache sarkastisch auf.
Ob es mir gut geht?
Nein, Warren.
Meine Zwillingsschwester fehlt.
Und ich habe mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt, damit ich in diese gottverlassene Stadt kommen und sie suchen kann.
In meiner neuen Schule ist es wie in einem Highschool-Horrorfilm.
Und ich muss mich in diese Gruppe von angeberischen Psychopathinnen auf dem Egotrip einschleusen –
Ich springe vom Stein runter und strecke die Arme aus.
Ich sehe, wie sich Warrens Augen weiten.
Aber ich kann nicht aufhören.
– denn sie sind diejenigen, die Verity zuletzt gesehen haben.
Wahrscheinlich sind sie für ihr Verschwinden sogar verantwortlich!
Und die Krönung ist:
Die Polizei hat offenbar einfach aufgehört, nach ihr zu suchen.
Alles ruht jetzt auf meinen Schultern,
weil kein anderer sich darum schert!
Warrens Gesicht wird ernst und er deutet mit dem Finger auf seine Brust.
Ich schere mich darum.
Ich liebe sie.
Ich blicke ihn an und sehe, dass er die Wahrheit sagt.
Das nimmt mir ein bisschen den Wind aus den Segeln.
Ich weiß, dass es ihm wichtig ist.
Die beiden waren mehrere Monate zusammengewesen.
Er war es, der mich kontaktiert
und diesen ganzen Plan ausgeheckt hat.
Du hast recht.
Tut mir leid.
Ich bin nur müde.
Ich setze mich wieder auf den Stein.
Er setzt sich neben mich, aber mit großem Abstand.
Wie war denn die Party?
Verrückt.
Aber nicht so verrückt wie die Belladonnas.
Ich spreche ihren Namen absichtlich schwungvoll, und Rylan lacht.
Nun lache ich mit.
Aber das Lachen erstirbt so schnell, wie es gekommen ist.
Ich sage ihm, was mir wirklich durch den Kopf geht.
Diese Belladonna-Mädchen …
Ich weiß nicht, ob ich da mithalten kann.
Leute wie die sind mir noch nie begegnet.
Warren brummt zustimmend.
Es gibt niemanden, der so ist wie sie.
Aber du schaffst das schon.
Ich schaue ihn von der Seite an.
Ach ja?
Und woher willst du das wissen?
Er zuckt mit den Achseln und guckt zurück.
Du hast doch ihre Aufmerksamkeit bekommen, oder nicht?
Das schafft nicht jede.
Nur, weil du mir dabei geholfen hast.
Er dreht sich zu mir und blickt mich voll an.
Wir stecken da gemeinsam drin, Nova.
Ein Gefühl der Dankbarkeit überkommt mich.
Wenigstens einen Menschen gibt es, dem ich vertrauen kann.
Dann fällt mir ein, was ich ihm sagen wollt:
Apropos gemeinsam drinstecken –
Kendall gibt morgen eine Dinnerparty.
Da muss ich einen Begleiter mitbringen.
Warren verzieht überrascht das Gesicht …
Dann guckt er weg.
Ich weiß, es ist komisch.
Aber ich kenne hier sonst niemanden.
Du bist meine einzige Option.
Und alleine kann ich nicht hin.
Kendall hat gesagt, eine Belladonna kommt niemals allein.
Warren atmet geräuschvoll aus, dann nickt er.
Ja, okay.
Ich komme mit.
Könnte Sinn machen, wenn wir beide da sind.
Vielleicht kriegen wir die Chance, ihr Haus zu durchsuchen oder so.
Ich nicke, dann stehe ich auf.
Lass uns morgen über die Einzelheiten quatschen.
Ich bin fix und fertig.
Er steht auf und wir gehen beide zurück zu meinem Haus.
Es ist halt so merkwürdig, weißt du?
Was denn?
Dass meine Schwester mit diesen Mädchen befreundet war.
Er stutzt.
Warte mal, was?
Das ergibt gar keinen Sinn.
Ein so liebes Mädchen wie meine Schwester?
Eine Belladonna?
Es macht einfach keinen –
Nova.
Der Klang seiner Stimme überrascht mich.
Ich drehe mich um, schaue ihn an und runzele fragend die Stirn.
Verity war nie eine Belladonna.
Mir gefriert das Blut in den Adern.
Einen Augenblick lang starre ich Rylan nur an.
Wie kann das sein?
Sie waren nicht befreundet.
Meine Gedanken rasen.
Ich gehe alle Gespräche mit meiner Schwester noch einmal durch.
Sie sprach von nichts anderem als von Kendall und den Belladonnas.
Wie sie Verity in die Gruppe eingeladen haben ...
Und sie sind alle schnell Freundinnen geworden.
Dass sie beliebt war und –
Hat sie dir DAS gesagt?
Ich nicke, taumele, bin unsicher, was ich mit dieser neuen Information anfangen soll.
Sie hat mich angelogen.
Wieso sollte sie lügen?
Er seufzt und schaut in die Ferne.
Weiß ich nicht.
Eine Weile später schaue ich zu, wie Warren in die Nacht hinausfährt.
Eben war ich noch völlig erschöpft, aber jetzt kann ich mich einfach nicht beruhigen.
Was für Lügen hat Verity mir noch erzählt?
Was wird hier wirklich gespielt?
Da höre ich hinter mir einen Zweig knacken.
Ich drehe mich wieder zu den Bäumen um.
Ich höre ein Rascheln, und mein Herz beginnt zu rasen.
Wer ist da?!
Ich gehe zurück in den Wald und schaue umher.
Nichts.
Aber dann höre ich in der Ferne das unverwechselbare Geräusch leichter Laufschritte.
Jemand hat uns beobachtet.
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