Fernbeziehung - Folge 1
by Clarissa Carson
Jetzt ist es gleich soweit.
Ich werfe einen Blick auf meine Uhr.
Es ist fast zwei.
Mein Herz rast vor Erwartung.
Noch fünf Sekunden.
Vier.
Drei.
Zwei –
Genau pünktlich ruft Miles mich über FaceTime an.
Ich hebe beim ersten Klingeln ab.
Wir grinsen einander idiotisch an.
Erica!
Hey, Miles!
Wie läuft dein Tag?
Miles zuckt mit den Schultern.
Äh, ziemlich durchschnittlich.
Aber dein wunderschönes Gesicht zu sehen, hat ihn so viel besser gemacht.
Ich werde rot.
Ach, ich vermisse dich so sehr!
Ich weiß. Fernbeziehungen sind schwer.
Vielleicht kannst du mal nach New York kommen.
Miles grinst strahlend.
Ich arbeite daran.
Aber du weißt, wie verrückt mein Job ist.
Natürlich ist es jetzt, wo Kelly hier ist, um mir zu helfen, nicht mehr so schlimm.
Kelly.
Beim Klang ihres Namens beiße ich die Zähne zusammen …
Aber ich glaube nicht, dass Miles das merkt.
Während er weiter von seinem Tag erzählt ...
Öffne ich Kellys Instagram-Seite.
Bäh, sie ist perfekt ...
Mit ihren honigblonden Haaren und ihrer zierlichen Figur.
Alias das genaue Gegenteil von mir.
Und warum muss sie so viele Fotos von sich im Bikini posten??
Das neueste Bikinifoto hat über 2.000 Likes!
Und einer davon kommt von Miles.
Mir wird schwer ums Herz.
Erica?
Bist du noch da?
Ich reiße den Kopf hoch.
Was? Oh, ja.
Dann hat Kelly also beim Firmenmeeting etwas Saukomisches gesagt –
Oh, toll, witzig ist sie also auch.
Ich versuche, nicht abfällig zu klingen ...
Aber dieses Mal merkt Miles es auf jeden Fall.
Was stimmt nicht, Erica?
Was meinst du?
Jedes Mal, wenn ich dir von Kelly erzähle …
Er sucht nach Worten.
Wirst du irgendwie komisch.
Ich bin nicht komisch.
Mir ist nur gerade eingefallen …
Dass ich weg muss.
Was? Jetzt?!
Ja, das ist in letzter Minute aufgekommen.
Ein dringendes geschäftliches Meeting.
Kann ich auf keinen Fall absagen.
Ich lächele und versuche, die Tatsache zu verbergen, dass ich das Blaue vom Himmel herunterlüge.
Es tut mir so leid.
Ich schwöre, ich mache es wieder gut.
Erica, warte –
Wir reden später, okay?
Ich gebe ihm keine Zeit zu antworten, ehe ich auflege.
Ich verbringe die nächsten paar Minuten damit, Kelly in jedem sozialen Netzwerk, das ich finden kann, auszuspionieren.
Nun, eigentlich Stunden.
Ich erfahre alles über sie:
Wie sie sich die Haare macht und sich schminkt ...
Wie sie so posiert, dass maximal viel Dekolleté zu sehen ist ...
Wie sie immer den Kopf zurückwirft, wenn sie lacht.
Als Miles mich also abends zur gewohnten Zeit über FaceTime anruft, bin ich bereit.
Mein Make-up ist grell und gewagt.
Meine Haar sind nicht ganz so stufig ...
Aber immerhin weniger wuschelig als sonst.
Und ich trage das T-Shirt mit dem tiefsten V-Ausschnitt, das ich finden konnte.
Als ich ans Telefon gehe ...
Starrt Miles mich so lange an ...
Dass ich denke, mein Bildschirm wäre eingefroren.
Hey, Schatz!
Ich versuche, eine höhere Stimmlage einzunehmen, aber das führt nur dazu, dass ich keine Luft kriege.
Unbeholfen versuche ich, das Ganze als Husten zu tarnen.
Miles schaut mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm.
Erica?
Bist du das?
Natürlich bin ich das, Dummerchen!
Wer sollte es sonst sein?
Geht es dir gut?
Du siehst … verändert aus.
Oh, ich dachte nur, ich mache mich für heute Abend ein bisschen zurecht.
Du weißt schon, um die Sache etwas aufzupeppen.
Ähm, okay.
Wie war denn dein Tag?
Der war toll!
Ich war mit ein paar Freunden essen.
Es war toll, sich mal wieder zu sehen.
Cool, wo wart ihr?
In der Salatbar.
Der Salatbar?! Aber du hasst Salat!
Natürlich nicht!
„Ein gesundes Äußeres beginnt innendrin.“
Das sage ich immer.
Das hast du noch nie im Leben gesagt.
Miles reibt sich die Schläfen.
Was stimmt nicht?
Ich suche nach meiner Freundin Erica.
Hast du sie gesehen?
Oh, Schatz. Du bist so witzig!
Ich werfe den Kopf zurück und lache ...
Und falle fast vom Stuhl dabei.
Als ich mich aufrichte, sehe ich Miles die Stirn runzeln.
Was ist los, Erica?
Was meinst du?
Du bist anders.
Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.
So bin ich eben.
Vielleicht kennst du mich nur nicht gut genug.
Weißt du, ich dachte wirklich, ich würde dich kennen.
Aber vielleicht stimmt das nicht.
Wir sehen uns, Erica.
Miles, warte!
Ich senke meine Stimme auf meine normale Stimmlage und setze mich gerade hin.
Okay, in Ordnung.
Ich schätze, ich habe versucht, jemand zu sein, der ich nicht bin.
Wer?
Ich seufze tief.
Kelly.
Kelly? Die von meiner Arbeit?
Ja.
Miles runzelt hinreißend die Stirn.
Ich habe mir nur so große Sorgen gemacht, weil du so viel Zeit mit ihr verbringst.
Du redest ständig von ihr …
Und du likst alle ihre Fotos.
Ich meine, sie ist so cool und hübsch und witzig …
Ich dagegen –
Perfekt.
Schau mal, Erika, du hast das alles falsch verstanden.
Der einzige Grund, warum ich so viel Zeit mit Kelly verbringe …
Ist, dass ich sie ausbilde.
Du bildest sie aus?
Ja. Sie wird meinen Job übernehmen.
Ich hatte vor, dich damit zu überraschen, aber …
Ich habe um eine Versetzung nach New York gebeten.
Und sie wurde genehmigt.
Ich fange in zwei Wochen an.
Als ich das höre, verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln.
New York, sagst du?
Was ist in New York?
Oh, du weißt schon.
Wolkenkratzer…
Pizza mit dünner Kruste …
Und ein gewisses Mädchen, in das ich zufälligerweise verliebt bin.
Meine Augen werden groß.
Ich fühle, wie mein Herz Rad und Purzelbaum schlägt.
Ich atme zitternd aus.
Hast du „verliebt “gesagt?
Ja, Erica.
Habe ich.
Ich bin verliebt in ein Mädchen …
Das niemals so tun muss, als wäre sie jemand anderes.
App