Gesehen - Episode 1
by Chase Caldwell
Gute Nacht, Otis!
Amelia schließt ihre Vordertür.
Beim Klicken des Türgriffs schwindet ihr Lächeln.
Sie sackt in sich zusammen und lehnt ihren Kopf an das Holz.
Oh Mann …
Sie stößt ein paar Mal mit der Stirn gegen die Tür.
Sei kein Feigling, Amelia.
Sag es ihm!
Sie blickt durch den Türspion.
Draußen entfernt sich Otis von ihrem Haus.
Komm schon.
Amelia schaut sich in einem Spiegel in ihrer Nähe an.
Okay.
Ein letztes Mal üben.
Sie richtet sich die Haare.
Dann setzt sie ihren verführerischsten Gesichtsausdruck auf.
Es ist nicht toll, aber sie versucht es wenigstens.
Sie beginnt zu proben, was sie sagen will.
Hey, Otis.
Ich gehe morgen früh aufs College.
Aber bevor ich gehe, muss ich dir etwas sagen.
Amelia hebt eine Augenbraue so aufreizend, wie sie kann.
Es sieht extrem albern aus, aber in ihrer Vorstellung ist es unglaublich cool.
Ich mag dich.
Ich meine ... so richtig …
Sie starrt den imaginären Otis im Spiegel vielsagend an …
Bis sie schließlich abbricht.
Ein selbstbewusstes Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Wow.
Das ist echt gut.
Sie nickt, vollkommen selbstsicher.
Okay, so machen wir es.
Sie späht noch einmal durch den Türspion.
Otis ist fast am Ende der Auffahrt angekommen.
Amelia holt tief Luft.
Du schaffst das.
Sie greift nach dem Türgriff.
Aber etwas hält sie zurück.
Sie zuckt zusammen.
Du schaffst das …
Ihre Hand beginnt zu zittern.
Otis tritt auf den Gehweg.
Du …
Schließlich lässt sie ihre Arme hängen.
Schaffst das nicht …
Amelia sinkt zu Boden.
Sie schließt die Augen und stößt einen langen, resignierten Atemzug aus.
Ihr Versagen bricht über sie herein.
Endlich öffnet sie die Augen.
Sie erblickt ihre gepackten Koffer am Fuß der Treppe.
Der morgige Tag und alles, was er mit sich bringt, sind unvermeidlich.
Aber plötzlich hat Amelia eine Idee.
Sie schaut auf ihre Uhr.
Es ist noch Zeit.
Sie springt auf die Füße und rennt nach oben.
2 Stunden später
Amelia ist in ihrem Zimmer.
Das Licht des Computerbildschirms erhellt ihr Gesicht.
In der Nähe stößt der Drucker ein Blatt Papier aus.
Als er fertig ist, greift sie danach.
Auf der Seite befindet sich ein großer QR-Code mit den Worten „Scan mich" darunter.
Perfekt.
Sie schnappt sich ein weiteres Blatt Papier, das genauso aussieht, und stürzt aus ihrem Zimmer.
Der nächste Morgen
Singvögel begrüßen die Sonne.
Otis steht auf und streckt sich.
Er öffnet sein Fenster und ist sofort verblüfft.
Einer von Amelias QR-Codes befindet sich auf der anderen Seite.
Seine müden Augen lesen die Worte „Scan mich.”
Also schnappt er sein Telefon und scannt das Papier.
Einen Moment später erscheint ein Video von Amelia auf seinem Bildschirm.
Steh auf und glänze!
Ich wette, dass du nicht damit gerechnet hast, mich heute Morgen zu sehen, stimmt's?
Otis lächelt.
Wenn du das siehst, bin ich auf dem Weg zur Schule mit meinen Eltern.
Meine Mutter wird heulen.
Und mein Vater wird so tun, als ob er nicht weint.
Was ich damit sagen will, …
Abschiede sind schwer.
Otis nickt.
Ich meine, WIRKLICH VERDAMMT SCHWER.
Amelia lacht.
Aber ich hoffe, dass Abschiede vielleicht auch eine Gelegenheit sind.
Ein Chance, alle Karten auf den Tisch zu legen.
Und das habe ich vor.
Aber wenn du sehen möchtest, wovon ich spreche, …
Musst du da hingehen, wo alles begann.
Fröhliche Spurensuche!
Amelia lächelt nervös, bevor das Video endet.
Otis legt sein Telefon weg.
Er versucht, das Video zu verstehen.
Wo alles begann?
Was hat sie …
Plötzlich hat Otis eine Idee.
Und er geht zur Tür.
Derweil sitzt Amelia auf dem Rücksitz eines Autos.
Sie ist zwischen Kisten und Koffern eingeklemmt.
Sie kann ihre Mutter vorne wimmern hören.
Aber sie konzentriert sich gerade zu sehr auf ihr Telefon, um sich darum zu kümmern.
Auf dem Bildschirm befinden sich zwei graue Punkte.
Sie beobachtet sie mit wachsender Erwartung.
Plötzlich wird einer grün.
Und das Wort „gesehen" erscheint daneben.
Amelia schluckt schwer.
Jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Ihre Augen fokussieren sich auf den zweiten Punkt.
Eine Stunde später
Otis läuft auf dem Fußweg auf einen Laternenpfahl zu.
Der untere Teil ist bedeckt von angeklebten Werbezetteln für Gitarrenstunden und Reinigungsdienste.
Aber einer hebt sich ab:
ein QR-Code.
Er eilt darauf zu und scannt ihn mit seinem Telefon.
Einen Moment später öffnet sich ein weiteres Video von Amelia.
Willkommen da, wo alles begann.
Unsere alte Bushaltestelle.
Ich werde nie vergessen, wie viel Angst ich hatte, als ich in die Stadt zog.
Ich meine, ich war sieben oder so …
Daher hatte ich im Grunde vor allem Angst.
Aber umzuziehen war besonders furchterregend.
Ich hatte Angst, keine Freunde zu finden.
Dass niemand mich mögen würde.
Aber dann kam ich zu dieser Bushaltestelle.
Und ein sonderbares kleines Kind bat mich armes kleines Ding, neben ihm zu sitzen.
Otis lächelt.
Und dann wurde er mein bester Freund.
Und dann, viel später, …
Nach vielen tollen Unterhaltungen …
Und vielen tollen gemeinsamen Erlebnissen …
Gingen wir auf verschiedene Colleges.
Amelia seufzt.
Sie schließt ihre Augen, als sie das ganze Gewicht des Moments spürts.
Schau, Otis.
Unsere Freundschaft ist für mich das Wichtigste auf der Welt.
Der Gedanke, sie in Gefahr zu bringen, macht mich total fertig.
Aber ich will mehr …
Ich liebe dich, Otis.
Und nicht nur als Freund.
Amelia entspannt sich, als ihr diese Worte über die Lippen kommen.
Wir werden mit der Entfernung klarkommen.
Wir mit allem klarkommen …
Gemeinsam.
Das heißt, …
Wenn du willst.
Otis starrt auf den Bildschirm …
Und das Video endet.
In der Zwischenzeit geht Amelia in ihrem Zimmer im Wohnheim auf und ab.
Sie hat noch nichts ausgepackt.
Sie kann nur an den Anblick des grauen Punkts auf ihrem Telefon denken.
Plötzlich wird er grün …
Und das Wort „gesehen" erscheint daneben.
Ihr Herz rast.
Sie beobachtet das Telefon, jeden Moment erwartet sie einen Anruf.
Aber er kommt nicht.
Zehn Minuten vergehen …
Und noch immer nichts.
Amelia überprüft, ob sie Empfang hat.
Den hat sie.
2 Stunden später
Amelia sitzt auf ihrem Bett und wartet noch immer auf einen Anruf.
Mondlicht scheint durch das Fenster …
Und schließlich schläft sie ein.
Der nächste Morgen
Amelia erwacht mit einem Ruck auf ihrer unbezogenen Matratze.
Sie greift nach ihrem Telefon in der Gewissheit, dass sie einen Anruf von Otis verpasst hat.
Aber da ist nichts.
Kein Anruf.
Keine Nachricht.
Sie lässt den Kopf sinken.
Du bist eine Idiotin, Amelia.
Du hast es ruiniert.
Sie sieht zu der Uhr auf ihrem Nachttisch hinüber.
Und trotz ihres Verlangens, die Zeit anzuhalten, geht sie weiter.
Erst eine Stunde.
Dann ein Tag.
Dann zwei Tage.
Dann vier Tage.
Amelia hat es geschafft, auszupacken.
Aber das Leben scheint aus ihrem Gesicht gewichen zu sein.
Sie starrt aus dem Fenster ihres Zimmers.
Ihr Telefon, halb unter ein Kissen geschoben, zeigt noch immer die beiden grünen Punkte an.
Just als die Welt am düstersten aussieht, kommt die Post.
Ein paar Zeitschriften werden unter ihrer Tür durchgeschoben.
Dann ein einzelner weißer Umschlag.
Amelia hebt ihn vom Boden auf.
Ihre Augen weiten sich, als sie den Absender erkennt.
Er ist von Otis.
Sie reißt den Umschlag auf und zieht den Brief heraus.
Sie entfaltet ihn und ihr Mund steht offen.
Es ist ein QR-Code.
Amelia hüpft durchs Zimmer, greift sich ihr Telefon und scannt ihn.
Kurz darauf erscheint Otis auf ihrem Bildschirm.
Okay, zunächst mal tut es mir leid, dass es so lang gedauert hat.
Ich kenne mich nicht annähernd so gut mit Technik aus wie du.
Daher habe ich mehrere Anläufe gebraucht.
Aber das hat mich darüber nachdenken lassen, wie verschieden wir sind.
Amelia beißt sich nervös auf die Unterlippe.
Unsere Hobbys und Interessen sind fast völlig gegensätzlich.
Amelia sackt in sich zusammen.
Aber irgendwie ... funktioniert es.
Wir kommen zusammen und unterstützen einander.
Was auch immer passiert.
Das liebe ich an uns.
Das liebe ich an dir.
Eine Träne läuft Amelias Wange hinunter.
Du hast gesagt, du möchtest mehr als Freundschaft.
Das möchte ich auch.
Das möchte ich schon lange.
Ich bin froh, dass du mir gesagt hast, was du fühlst …
Und ich will, dass du weißt, dass wir das hinkriegen werden …
Gemeinsam.
Amelias Herz erwärmt ihren gesamten Körper.
Jetzt ruf mich bitte an.
Ich vermisse dich nämlich total!
Amelia lässt den QR-Code zu Boden fallen und startet einen Videoanruf an Otis.
Einen Moment darauf taucht er auf ihrem Bildschirm auf.
Hey!!
Freude strahlt aus Amelias Augen.
Ich vermisse dich auch.
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