Wahrheit oder Pflicht - Folge 1
by Eric Levin
Wahrheit oder Pflicht?
Ich schaue Tom direkt in die Augen.
Meine Güte, heiß ist er.
Seit der siebten Klasse schwärme ich für ihn...
Das sind jetzt fünf Jahre.
Und nun haben wir es bis hier geschafft – wir beide ganz allein.
Wir sitzen bei ihm im Keller.
Allein.
Und er möchte ein Spiel beginnen.
OK. Wahrheit.
Ach Mensch...
Ich hatte gehofft, du würdest 'Pflicht' sagen.
Er lächelt scheu, und ich spüre, wie sich mein Herzschlag beschleunigt.
Doch seine Reaktion weise ich lachend ab.
Darum habe ich ja 'Wahrheit' gesagt!
Ich möchte, dass du es dir verdienst.
Mir ist so bewusst, wie allein wir gerade sind.
Es verstärkt die Chemie zwischen uns noch...
Als würde die Spannung an jedem einzelnen Molekül meines Wesens zerren.
Wir sitzen auf einem gemütlichen Plüschsofa, in entgegengesetzte Ecken gekuschelt.
Und schauen einander an.
Und um ehrlich zu sein, muss ich sagen, dass ich nervös bin.
Warum hast du mit Joe Schluss gemacht?
Wie soll ich diese Frage beantworten?
“Weil er nicht du war?”
“Weil ich mich nur mit ihm verabredet habe, weil du dich mit Stephanie triffst und ich etwas brauchte, um mich darüber hinwegzutrösten?”
Ich muss schlucken.
Und zucke dann mit den Achseln in der Hoffnung, das sähe nonchalant aus.
Er war einfach nicht mein Typ.
Wer ist denn dann dein Typ?
Na na. Nicht so schnell.
Du bekommst nur eine Wahrheit pro Runde.
Jetzt bin ich dran.
Tim zieht seine Unterlippe vor und macht eine witzige Schnute.
Das macht keinen Spaß mit dir.
Ich lache, um seinen Witz zu überspielen.
Dann nehme ich mich zusammen, um ihm die eine Frage zu stellen, auf die es ankommt.
Wahrheit oder Pflicht?
Tim lächelt mich schalkhaft an; seine Augen funkeln.
Gib mir eine Pflicht.
Wenn du darauf bestehst...
Verdammt!
Ich sitze hier und bin kurz davor, dem Typen, in den ich am meisten verliebt bin, eine Pflicht aufzuerlegen,...
... und mir kommt absolut nichts mehr in den Sinn.
Was wäre zwar sexy, aber kein Akt der Verzweiflung?
"Zieh' deine Hosen aus?"
Nein!
Zu viel, zu überstürzt.
Hmm…
Ich fordere dich auf, dein Hemd auszuziehen.
Aha!
Ein Klassiker.
Tim zieht sein Hemd aus und entblößt seinen wie gemeißelt wirkenden Brustkorb.
Er schaut zu, wie ich hinstarre.
War meine Zeit im Kraftraum also doch zu etwas gut?
Ich spüre, wie mein Gesicht errötet.
Ich ... ähm, ich würde sagen, ja.
Inzwischen mache ich im Geiste ein paar Schnappschüsse.
Diese werden mir durch manche einsame Nacht helfen.
Denn im Augenblick möchte ich auf Tims Bauchmuskeln spielen wie auf einem Xylophon.
Wahrheit oder Pflicht?
Wahrheit.
Ach komm. Schon wieder?
Ich zucke mit den Achseln.
Das Spiel heißt nun mal "Wahrheit oder Pflicht". Ich befolge nur die Spielregeln.
Schön und gut.
Dann lass mich mal nachdenken...
Du wirst mir die gleiche Frage stellen wie vorhin, hab' ich Recht?
Du möchtest wissen, was für ein Typ ich bin.
Falsch.
Tim legt die Stirn in Falten, während er überlegt.
Gut denn. Was macht dich am meisten an?
Weißt du, dass es Menschen gibt, die unter Druck ihr Selbstvertrauen behalten?
Genauso ist es bei mir gerade überhaupt nicht.
Äh,… ähm,… nun,…
Lass dir ruhig Zeit.
Ich möchte nämlich, dass du mir die richtige Antwort gibst.
Hat er mir gerade zugezwinkert?
Das war wirklich äußerst... heiß.
Tim ist sich seiner selbst immer so sicher.
Manchmal bis zu dem Punkt, dass es unerträglich anziehend wirkt.
Ich lächle, denn ich erkenne, dass ich die Antwort weiß.
Selbstvertrauen. Das ist es, was mich anmacht.
Tim sinkt in sich zusammen wie ein Luftballon.
Ach nein.
Doch, das ist wahr!
Ich hatte eher nach physischen Dingen gefragt...
Ich schneide Tim das Wort ab, bevor er mir Beispiele geben kann.
Jetzt mach' dich doch nicht lächerlich.
Du hast nichts davon gesagt, dass das, worauf ich abfahre, etwas Physisches sein soll.
Und ich bin erfahren darin, die Regeln zu befolgen.
Das würde ich also wissen.
Tim starrt mich mit offenem Mund an.
Mein Gott, das fand ich gerade so heiß.
Mir schießt das Blut ins Gesicht.
Wie bitte?
Wie du deine Meinung gesagt und das Heft in die Hand genommen hast.
Ich verstehe die Regeln schon, wenn du sie mir sagst.
Ich lächle und beiße mir auf die Lippe.
Na denn, wenn du es unbedingt wissen musst.
Was rein physische Dinge betrifft:
Es gefällt mir, wenn man mir den Rücken krault.
Tim starrt mich an, als sei ich ein Puzzlespiel, das er fertigzustellen versucht.
Und als hätte er gerade ein Teil mit unpassender Form entdeckt.
Deinen Rücken?
Warum denn gerade deinen Rücken?
Keine Ahnung. Der ist manchmal so verspannt,...
... und wenn mir dann jemand eine Massage gibt,...
... dann ist das so entspannend, dass es etwas in mir freisetzt.
In diesem Moment starrt Tim mich an, als hätte ich drei Köpfe.
Wie? Gefällt es dir etwa nicht, massiert zu werden?
Während ich Tim studiere, kommt es mir vor, als hätte ich eine außerkörperliche Erfahrung.
Wer hätte für möglich gehalten, dass ich den Freitagabend mit meinem größten Schwarm bei Diskussionen darüber zubringen würde, was mich am meisten anmacht?
Also ich lasse mich schon gern massieren; sicher.
Aber du sagst, dass dich das nicht wirklich anmacht?
Oh mein Gott.
Habe ich ihn das gerade wirklich gefragt?
Tim zuckt mit den Schultern.
Nein, tut es nicht. Ich schätze, dass das bei mir einfach nicht wirkt.
Ich glaube, was mir gefällt, ist eher das, was wir jetzt gerade tun.
Wenn jemand seinen Panzerung abstreift und mir seine verletzlichen Seiten zeigt.
Mir gefällt diese Art von...
Intimität?
Ja, genau. Intimität.
Tim erwidert meinen Blick, und wieder ist da dieses vertraute Wirken der Chemie zwischen uns.
Die Luft ist so dick, dass ich kaum Atem holen kann.
Ich muss das Thema wechseln.
Jetzt gleich.
Also: Wahrheit oder Pflicht?
Wahrheit.
OK, das ist meine Gelegenheit.
Habe ich genug Mut, ihn zu fragen?
Ich hole tief Luft.
Jawohl. Ich werde nicht klein beigeben.
Warst du jemals in mich verliebt?
Tim lacht.
Plötzlich fühle ich mich traurig und beschämt wegen meiner Frage.
Bin ich so wenig attraktiv, dass dieser Gedanke ein Witz ist?
Zumindest ein lustiger Witz – seinem Gelächter nach.
Doch dann kratzt sich Tim am Unterkiefer.
Ja, schon. Mir gefielst du.
Ich kann meinen Ohren kaum trauen.
Ich kann ihnen buchstäblich nicht glauben.
Ein paar Sekunden hatte ich geglaubt, er hätte gesagt: "Mir gefielen Zoos".
Und ich meine, Zoos gefallen mir auch – daher war es mir als plausible Antwort vorgekommen.
Wirklich? Du hast mich gemocht?
Warum?
Na na. Nicht so schnell mit all den Fragen.
Hattest du nicht gesagt, du würdest dich an die Regeln halten?
Und du bekommst nur eine Wahrheit pro Runde.
Also bin ich jetzt an der Reihe. Wahrheit oder Pflicht?
Mist.
Gefangen in den Regeln des Spiels!
Also gut. Wahrheit.
SCHON WIEDER?!
Ich lache.
Selbstverständlich. Solange du nicht aufhörst, so zu reagieren, werde ich weiter 'Wahrheit' wählen.
Touché.
Es herrscht ein Moment Schweigen, bevor Tim seine Frage stellt.
Und warst du jemals in mich verliebt?
Fünf Jahre lang...
Mein Herz rast.
Wie viel soll ich ihm sagen?
Ja.
Ich hätte zwar etwas mehr sagen können, aber ich werde es ganz sicher nicht zugeben.
Außerdem ist Tim bei allen beliebt.
Darum hatte ich diese Verabredung mit ihm geplant...
Doch dann hatte er begonnen, sich mit Stephanie zu verabreden.
Und jetzt könnte er genauso gut ein "Betreten verboten"-Schild um den Hals tragen.
Ich spitze meine Lippen.
Wahrheit oder Pflicht?
Pflicht.
Was soll ich verlangen?
"Herunter mit den Hosen?"
Das käme mir immer noch zu aggressiv vor.
Mein Blick streift seinen Oberkörper und folgt den Konturen seiner Schultermuskeln.
Ach du...
Moment.
Ich glaube, ich weiß es.
Ich fordere dich auf,...
... mir eine Massage zu machen.
Wir schauen einander an.
Die Zeit scheint stehengeblieben zu sein.
Massiere mir den Rücken.
Und in einem Schweigen, das bedeutender ist als alle Worte, die wir je wechseln könnten,...
... rutscht Tim zu mir herüber.
Wäre es... dir recht, dein Hemd dazu auszuziehen?
Ich möchte nicht grob sein. Im Ernst; ich werde gar nicht hinschauen.
Ich denke nur, dass sich eine Massage so besser anfühlen wird.
Die nächsten Worte setzte er noch rasch dazu.
Du darfst auch ablehnen.
Ist Tim verwirrt?
Langsam schüttle ich mit dem Kopf.
Wir sind einander ausgeliefert, nicht wahr?
Und dann ziehe ich mein Hemd über den Kopf.
Tims Blick lässt meine Haut heiß werden.
Als er schluckt, kann ich sehen, wie sich sein Kehlkopf bewegt.
Als ich seine Stimme wieder höre, klingt sie barsch.
Leg' dich hin.
Ich lege mich hin und spüre die Fasern des Sofas an meinem nackten Bauch.
Er beginnt, die Knoten in meinen Schultern und an den Seiten der Wirbelsäule entlang in kleinen, kreisenden Bewegungen zu reiben.
Er summt sich, während er arbeitet, eine Melodie vor...
Er lehnt sich so nahe an mich, dass ich spüre, wie seine Brust meinen Rücken berührt.
Seine Finger tanzen nun heftiger gegen die kleinen Steinchen in meinem Nacken...
Und dann knetet er die größeren Knoten in den Muskeln an meinen Schulterblättern weg.
Zwar sind seine Hände ein wenig kratzig, doch es gefällt mir gut.
Er arbeitet sich weiter meinen Rücken herunter.
Und ich kann mir nicht helfen: Ich muss vor Vergnügen aufstöhnen.
Ich wette, du hast das schon zuvor gemacht, oder?
Ein, zwei Mal.
Ich lache.
Und dann flüstert er mir ins Ohr:
Wahrheit oder Pflicht?
Ich überlege einen Moment.
Ich könnte ihm auch mal etwas gönnen.
Er hat mir gerade die wohl beste Massage meines Lebens verabreicht.
In Ordnung. Pflicht.
Tims Augen leuchten auf.
Schön. Ich sehe, dass wir jetzt mehr Risiko eingehen.
Nein, ich wollte die Spannung im Spiel steigern bis zu diesem Moment.
Tim durchdenkt seine Möglichkeiten
Und dann hat er sich etwas überlegt.
Ich fordere dich auf, mir zu erzählen, woran du gerade denkst.
Genau jetzt.
Genau zu dieser Sekunde.
Was meinst du?
Du hast diese Gewohnheit, in Gedanken zu versinken,...
... besonders, wenn du nervös bist.
Bist du das jetzt gerade auch?
Nein! Ich bin nicht nervös!
Ich meine – ein bisschen schon, aber es ist eine gute Art von Nervosität.
Darüber muss ich nichts erzählen.
So sind aber die Spielregeln, Greta…
Du hast in eine 'Pflicht' eingewilligt.
Was die Regeln betrifft, hat er Recht,...
Und was wäre ich ohne meine Regeln?
Ich nehme einen tiefen Atemzug.
Zeit, mein eigenes Todesurteil zu unterschreiben...
Gut denn. Ich habe über folgendes nachgedacht:
Ich bin so lange in dich verliebt gewesen,...
... und als du angefangen hast, dich mit Stephanie zu treffen,...
... da... konnte ich meine Gefühle einfach nicht länger unter Kontrolle halten.
Tut mir leid. Das hätte ich dir nicht sagen sollen.
Tu einfach so, als ob ich nichts gesagt hätte.
Ich hätte mich gar nicht erst auf dieses Spiel mit dir einlassen sollen.
Ich schlage mir die Hände vors Gesicht
Tim legt mir seine Hand auf das Knie.
Sie fühlt sich warm an, und sie hat sanftes Gewicht.
Ach Greta,…
Langsam hebe ich meinen Kopf.
... ich treffe mich gar nicht mehr mit Stephanie.
Nicht mehr?
Nein. Sie und ich – das passte einfach nicht gut zueinander.
Und was ich glaube, ist:
Ich sitze zwar immer noch ohne Hemd da, doch Tims Augen sind auf die meinen geheftet.
Ich hätte mich auch besser nicht auf dieses Spiel mit dir eingelassen.
Mein Herz sinkt.
Oh, das tut mir lei–
Nein. Ich wollte damit sagen, dass ich nicht hätte mitspielen sollen, ohne dir zuvor etwas gesagt zu haben.
Ich bin sehr in dich verliebt, Greta.
Genau jetzt.
Und das ist schon eine Weile so.
Ernsthaft?
Ja, ernsthaft.
Er beugt sich vor und nimmt meinen Kopf in seine Hände.
Und hält mich so zärtlich fest.
Unsere Gesichter sind nur Zentimeter voneinander entfernt,...
... und ich kann seinen Atem auf meinen Lippen spüren.
Wahrheit oder Pflicht?
Pflicht.
Ich fordere dich auf, mich zu küssen. Jetzt sofort – und zwar so, als würdest du wünschen, dass es nie enden möge.
Als ob alle deine Panzerungen fort wären.
So, als ob du mir gänzlich ausgeliefert wärst.
Und dann küssen wir uns,...
... und ich will dazu nur so viel sagen:
Tim hat seine Pflicht erfüllt. Vollauf.
App